Wohl einer der verheerendsten Fallstricke einer Mitglieder- oder Gesellschafterversammlung kann der Umgang mit Stimmenthaltungen sein. Im Ernstfall kann sogar die Wirksamkeit eines in der Mitgliederversammlung gefassten Beschlusses auf dem Spiel stehen. Dabei ist zu berücksichtigen, dass fehlerhafte Beschlüsse, die ohne die erforderliche Mehrheit „zustande gekommen“ sind, im Vereinsrecht nicht anfechtbar, sondern schlichtweg nichtig sind, sodass sie keinerlei Rechtswirkungen entfalten.
Stimmenthaltungen bei Beschlussfassungen: Aktuelle Rechtslage und historische Entwicklung im BGB
Die derzeitige Rechtslage gestaltet sich so, dass Stimmenthaltungen bei der Ermittlung der Grundgesamtheit gem. § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB nicht berücksichtigt werden. Für den Fall einer einfachen Mehrheit bedeutet das, dass die Ja-Stimmen die Nein-Stimmen überwiegen müssen. Ungültige Stimmen oder Enthaltungen bleiben dabei gänzlich außer Betracht.
Das war allerdings nicht immer so. Bis zum Jahr 2009 wurde überwiegend, wenn auch nicht unumstritten, die Gesamtheit der anwesenden stimmberechtigten Mitglieder zugrunde gelegt. Dies war auf den Wortlaut des § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB a.F. zurückzuführen, der für einen wirksamen Beschluss die Mehrheit der „erschienenen Mitglieder“ forderte. Das hatte zur Folge, dass eine Enthaltung gerade nicht unberücksichtigt blieb, sondern durch ihren die Grundgesamtheit erhöhenden Effekt faktisch als Gegenstimme wirkte. Bei genauer Betrachtung widerspricht dies der Aussage einer Enthaltung, die ja gerade keine der beiden Entscheidungsalternativen (Zustimmung oder Ablehnung) zum Gegenstand hat. Der 2009 geänderte § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB spricht von der „Mehrheit der abgegebenen Stimmen“. Auch wenn diese Regelung keine ausdrückliche Entscheidung weg vom Anwesenheitsprinzip hin zur Anknüpfung an Stimmen mit Aussagekraft enthält, wird dies von der Rechtsprechung in die Norm hineingelesen. Mit der Änderung des Gesetzwortlauts schloss sich der Gesetzgeber der Rechtsprechung des BGH an, die seit 1982 Enthaltungen bei der Ermittlung der Grundgesamtheit nicht berücksichtigt (BGH vom 25.01.1982, II ZR 164/81, NJW 1982, 1585).
Der gleichen Auslegung unterliegen die wortlautgleichen Regelungen im GmbH- und Aktienrecht (§ 47 Abs. 1 GmbHG, § 133 Abs. 1 AktG), sodass auch bei Gesellschafter– und Aktionärsversammlungen den Enthaltungen keine Wirkung zukommt.
Abstimmung über Investoreneinstieg der DFL: Wie Stimmenenthaltungen die Beschlussfassung beeinflussen können
Ein aktuelles und brisantes Beispiel mit entsprechend medialer Aufmerksamkeit findet sich in der Abstimmung des DFL e.V. über den Investoreneinstieg im Dezember vergangenen Jahres. Fernab von der Problematik um die – vermutet – weisungswidrige Stimmabgabe des Hannover-96-Vertreters stellen solche fundamentalen Entscheidungen die Bedeutung einer fehlerfreien Beschlussfassung heraus. Im Fall des DFL wäre für einen erfolgreichen Investoreneinstieg eine Zweidrittelmehrheit erforderlich gewesen. Unter Außerachtlassung der beiden Enthaltungen belief sich die Grundgesamtheit (somit die Summe aus Ja- und Nein-Stimmen) auf 34, sodass rein rechnerisch 22,66 Stimmen, demnach 23 Stimmen für den erfolgreichen Beschluss erforderlich gewesen wären. Wären die Enthaltungen zu berücksichtigen, ergäbe sich daraus eine Grundgesamtheit von 36 Stimmen, sodass eine Zwei-Drittel-Mehrheit 24 Ja-Stimmen erfordert hätte. Auch wenn sich dies im Fall des mit 24 Ja-Stimmen gefassten DFL-Beschlusses nicht ausgewirkt hätte, kann eine fehlerhafte Bestimmung der Grundgesamtheit insbesondere bei knappen Entscheidungen erhebliche Auswirkungen auf das Abstimmungsergebnis haben.
Vereinssatzungen und Abstimmungsregeln: Gestaltungsmöglichkeiten und Auslegung von Mehrheitsbestimmungen
Allerdings ist zu berücksichtigen, dass es sich bei der Regelung des § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB gem. § 40 Satz 1 BGB um dispositives Recht handelt. Die Vereinssatzung kann daher vom Gesetzeswortlaut abweichende Regelungen treffen. Dabei steht es dem jeweiligen Verein auch frei, in den Regelungen zur Grundgesamtheit nach Mehrheitserfordernis oder Beschlussorgan (z.B. Mitgliederversammlung, Vorstand, Beirat) zu differenzieren.
Stellt die Vereinssatzung auf das frühere Anwesenheitsprinzip ab, gilt es, tückische Formulierungsfallen zu vermeiden. Denn, sofern die Satzung nicht stimmberechtigte Mitglieder vorsieht, die dennoch an einer Mitgliederversammlung teilnehmen dürfen, kann die Formulierung „Mehrheit der anwesenden Mitglieder“ schnell zur Unklarheit führen. Es empfiehlt sich daher, die Grundgesamtheit klar zu bezeichnen, etwa als „anwesende stimmberechtigte Mitglieder“.
Im Fall einer Satzungsregelung bedarf es oftmals der Auslegung, um sich dem konkreten Regelungsinhalt zu nähern.
Ein Anknüpfungspunkt ist dabei der Wortlaut der Satzungsregelung. Gleicht sich dieser der gesetzlichen Regelung an, ist zu vermuten, dass die Satzung den Regelungsinhalt des § 32 Abs. 1 Satz 3 BGB gelten lassen will. Problematisch wird es bei Mehrheitsregelungen, die vor der Gesetzesänderung im Jahr 2009 beschlossen wurden. Dort gilt es unter Berücksichtigung der jeweiligen Einzelfallumstände zu ermitteln, ob in der Einbeziehung des Gesetzestextes eine dynamische (auf die jeweils aktuelle Fassung des BGB) oder eine statische Verweisung (auf die Gesetzeslage im Beschlusszeitpunkt der Satzungsregelung) zu sehen ist bzw. welcher Regelungsinhalt mit der Formulierung konkret verfestigt werden sollte.
Ferner ist die Systematik der Satzung von Bedeutung. Sich gegenseitig widersprechende Regelungen sind im Sinne der Praxistauglichkeit und der Rechtsklarheit zu vermeiden. Finden sich Spezialregelungen beispielsweise hinsichtlich der Bestimmung der Grundgesamtheit für den Fall einer Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit, so geht diese der allgemeineren Bestimmung vor. Werden in einer solchen Regelung z.B. sogar ungültige Stimmen als abgegebene Stimmen gewertet, hat dies regelmäßig in einem denklogischen Erst-Recht-Schluss (sog. argumentum a fortiori) zur Folge, dass damit auch Enthaltungen erfasst sein müssen. Genau wie einer ungültigen Stimme kommt einer Enthaltung weder ein Für- noch ein Gegenwert in der Abstimmung zu. Sie sind damit beide ergebnisneutral, zählen jedoch in diesem Fall in die Grundgesamtheit. Erhöht sich diese, ist konsequenterweise auch in absoluter Hinsicht ein höherer Zustimmungswert nötig, um die in der Satzung statuierte, erforderliche Beschlussmehrheit zu erreichen. Dies entspricht dann in der Regel auch dem Sinn und Zweck der Normierung, effektiv höhere Beschlussanforderungen zu verankern, um eine erfolgreiche Beschlussfassung bei vergleichsweise geringer Beteiligung in ausgewählten, wichtigen Fragen zu verhindern.
Zur Ermittlung des konkreten Aussagegehalts einer Satzungsregelungen sind über den Wortlaut und die Systematik hinaus auch der Sinn und Zweck sowie die konkrete Regelungshistorie im Einzelfall relevant, sodass pauschale Aussagen nur schwer auf den Einzelfall übertragen werden können.
Eindeutige Satzungsregelungen können Abhilfe schaffen und Unsicherheiten vorbeugen
Die Verschiebung der Grundgesamtheit durch entsprechende Satzungsregelungen über die (Nicht-)Berücksichtigung von Enthaltungen hat damit fundamentale Auswirkungen auf die Mehrheitserfordernisse in absoluter Hinsicht. Unübersichtlich strukturierte Satzungen führen zu Anwendungsproblemen in der Praxis und häufig zu Diskussionen in Mitgliederversammlungen oder Gremiensitzungen. Es empfiehlt sich daher stets eine eindeutige und zugängliche Satzungsausgestaltung, um Zweifel auszuräumen und in rechtlicher Hinsicht auf der sicheren Seite zu stehen. Hierbei beraten Sie unsere Vereinsrechtsexperten gerne.
Weiterlesen:
Anforderungen an die Eventualeinberufung einer Mitgliederversammlung