Das Oberlandesgericht (OLG) Karlsruhe hat in seinem Urteil vom 23. Juni 2021 klargestellt, dass sich auch NPOs auf die Meinungsfreiheit berufen können und damit insbesondere auch Politiker kritisieren dürfen. Besonders bemerkenswert: Das Gericht hat geurteilt, dass weder der Erhalt von staatlichen Zuschüssen noch der Status der Gemeinnützigkeit NPOs daran hindert, sich auf ihre Grundrechte zu berufen.
Stiftung kritisiert einen Politiker der AfD
Der Fall vor dem OLG Karlsruhe betraf eine gemeinnützige Stiftung, die sich überwiegend aus staatlichen Zuschüssen finanzierte und deren Zweck die Stärkung der demokratischen Zivilgesellschaft und der Kampf gegen Rechtsextremismus, Rassismus und Antisemitismus ist. Auf ihrer Internetseite bezeichnete sie ein mittlerweile ehemaliges Mitglied der Partei „Alternative für Deutschland“ (AfD), der Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg war, in Reaktion auf mehrere seiner Äußerungen zu Israel und zum Holocaust in den (sozialen) Medien als „erklärter Antisemit und Holocaust-Relativierer“.
Unterlassungsklage des Politikers
Der Politiker war mit dieser Bezeichnung nicht einverstanden und verlangte daher von der Stiftung, die Bezeichnungen zu unterlassen. Vor Gericht argumentierte er, dass für sie das staatliche Neutralitätsgebot gelte und ihr somit das Recht auf Meinungsfreiheit nicht zustehe, da sich die Stiftung zu großen Teilen aus staatlichen Zuschüssen finanziere und zudem gemeinnützig sei.
Stiftung darf sich auf Meinungsfreiheit berufen
Diese Argumente konnten die Richter des Landgerichts (LG) Baden-Baden jedoch nicht überzeugen, sodass sie die Unterlassungsklage des Politikers abwiesen. Auch die darauffolgende Berufung des Politikers beim OLG Karlsruhe blieb erfolglos: Das Gericht bestätigte, dass die Äußerung der Stiftung von der Meinungsfreiheit gemäß Art. 5 Abs. 1 Grundgesetz (GG) gedeckt sei. Zwar greife die Äußerung der Stiftung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Politikers ein, da sie dazu geeignet sei, das Ansehen des Politikers in der Öffentlichkeit herabzusetzen. Allerdings sei dieser Eingriff nicht rechtswidrig: Denn die Stiftung könne sich auf die Meinungsfreiheit berufen, der in diesem Fall auch Vorrang vor dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht des Politikers einzuräumen sei.
Wer sich öffentlich äußert, muss mit Gegenwind rechnen
Der betroffene Politiker müsse damit rechnen, dass seine kritischen und vor allem öffentlichen Äußerungen zum Holocaust und zu Israel, die auf eine antisemitische Einstellung des Politikers hindeuten, nicht unkommentiert blieben. Er habe mit seinen Äußerungen eine hinreichende Tatsachengrundlage geschaffen, über die die Stiftung ein wertendes Urteil treffen durfte.
Mit anderen Worten: Wer sich öffentlich zu einem Thema äußert, müsse damit rechnen, dass andere Akteure auf diese Äußerung reagieren und ihre eigene Meinung – auch in einem scharfen Ton – dazu kundtun. Das gehöre zur öffentlichen Meinungsbildung, die gerade bei herausragenden Themen wie dem Antisemitismus und dem Holocaust eine wichtige Rolle spiele und daher besonders geschützt werden müsse. Gegen kritische Meinungsäußerungen Dritter könne sich der Politiker dann wiederum öffentlich mit eigenen Meinungsäußerungen zur Wehr setzen, so das Gericht.
Keine Einschränkung der Grundrechte durch staatliche Finanzierung …
Die Tatsache, dass sich die Stiftung überwiegend aus staatlichen Zuschüssen finanziere, ändere nichts an ihrem Recht, sich auf die Meinungsfreiheit zu berufen. Denn die Stiftung dürfe sich nur dann nicht auf die Grundrechte berufen, wenn sie vom Staat beherrscht werde. Das sei jedoch hier nicht der Fall, da der Staat weder im Stiftungsrat noch im Stiftungsvorstand oder einem anderen Organ der Stiftung vertreten sei. Dass sich die Stiftung überwiegend aus staatlichen Zuschüssen finanziere, reiche nicht aus, um eine (indirekte) Beherrschung der Stiftung durch den Staat anzunehmen. Denn die Stiftung könnte jederzeit ihre Finanzierung neu ordnen und z.B. entscheiden, keine weiteren Zuschüsse des Staates mehr in Anspruch zu nehmen.
… oder durch den Status der Gemeinnützigkeit
Auch der Status der Gemeinnützigkeit hindere die Stiftung nicht daran, sich auf ihre Grundrechte zu berufen. Die Vorschriften des Gemeinnützigkeitsrechts dienten allein steuerrechtlichen Zwecken und wirkten sich nicht auf den Grundrechtsschutz der Stiftung aus. Das Gemeinnützigkeitsrecht soll die Zivilgesellschaft fördern und nicht umgekehrt die Grundrechte von gemeinnützigen Organisationen einschränken.
Vorrang der Meinungsfreiheit
Wir halten die Entscheidung des Gerichts für richtig. Es hat zu Recht entschieden, dass die Äußerung der Stiftung von der Meinungsfreiheit gedeckt ist und Vorrang vor dem Persönlichkeitsrecht des Politikers genießt. Wer sich – gerade als Politiker – öffentlich zu bestimmten Themen äußert, muss damit rechnen, dass diese Äußerungen mitunter scharf kommentiert werden. Dabei kann es keinen Unterschied machen, ob dieser Kommentar von einem einfachen Bürger, einem Politiker oder eben einer NPO stammt.
WINHELLER unterstützt bei gemeinnützigkeitsrechtlichen Fragen
Auf den ersten Blick scheint diese Entscheidung die Position von NPOs zu stärken, die sich häufig zu politischen Themen äußern. Allerdings müssen diese beachten, dass es in dieser Entscheidung allein um die Frage ging, ob die Stiftung ihre Meinung über den Politiker überhaupt öffentlich äußern darf. Völlig offen ist jedoch die Frage, inwiefern diese Äußerung gemeinnützigkeitsrechtlich zulässig ist. Diese Frage konnte und durfte das OLG Karlsruhe nicht klären, da es zum einen nicht Gegenstand des Verfahrens war und es sich zum anderen beim OLG Karlsruhe um kein Finanzgericht handelt. NPOs müssen daher weiterhin darauf achten, dass sie die vom Bundesfinanzhof (BFH) aufgestellten Grenzen zur zulässigen politischen Betätigung nicht überschreiten. Im Zweifel helfen Ihnen unsere Experten für Gemeinnützigkeitsrecht gern weiter.
OLG Karlsruhe, Urteil v. 23.06.2021 – 6 U 190/20
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